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4.2.1 Ich höre Stimmen
Die grundlegenden und innersten Ebenen in einer LilyPond-Partitur werden „Voice context“ (Stimmenkontext) oder auch nur „Voice“ (Stimme) genannt. Stimmen werden in anderen Notationsprogrammen manchmal auch als „layer“ (Ebene) bezeichnet.
Tatsächlich ist die Voice-Ebene die einzige, die wirklich Noten enthalten kann. Wenn kein Voice-Kontext explizit erstellt wird, wird er automatisch erstellt, wie am Anfang dieses Kapitels gezeigt. Manche Instrumente wie etwa die Oboe können nur eine Note gleichzeitig spielen. Noten für solche Instrumente brauchen nur eine einzige Stimme. Instrumente, die mehrere Noten gleichzeitig spielen können, wie das Klavier, brauchen dagegen oft mehrere Stimmen, um die verschiedenen gleichzeitig erklingenden Noten mit oft unterschiedlichen Rhythmen darstellen zu können.
Eine einzelne Stimme kann natürlich auch vielen Noten in einem Akkord enthalten – wann also braucht man dann mehrere Stimmen? Schauen wir uns zuerst dieses Beispiel mit vier Akkorden an:
\relative { \key g \major <d' g>4 <d fis> <d a'> <d g> }
Das kann ausgedrückt werden, indem man die einfachen spitzen Klammern
< … >
benützt, um Akkorde anzuzeigen. Hierfür braucht man
nur eine Stimme. Aber gesetzt der Fall das Fis sollte eigentlich
eine Achtelnote sein, gefolgt von einer Achtelnote G (als Durchgangsnote
hin zum A)? Hier haben wir also zwei Noten, die zur gleichen Zeit
beginnen, aber unterschiedliche Dauern haben: die Viertelnote D und die
Achtelnote Fis. Wie können sie notiert werden? Als Akkord kann man sie
nicht schreiben, weil alle Noten in einem Akkord die gleiche Länge besitzen
müssen. Sie können auch nicht als aufeinander folgende Noten geschrieben
werden, denn sie beginnen ja zur selben Zeit. In diesem Fall also brauchen
wir zwei Stimmen.
Wie aber wird das in der LilyPond-Syntax ausgedrückt?
Die einfachste Art, Fragmente mit mehr als einer Stimme auf einem System
zu notieren, ist, die Stimmen nacheinander (jeweils mit den Klammern
{ … }
) zu schreiben und dann mit den spitzen Klammern
(<< … >>
) simultan zu kombinieren. Die beiden Fragmente müssen
zusätzlich noch mit zwei Backslash-Zeichen (\\
) voneinander
getrennt werden, damit sie als zwei unterschiedliche Stimmen erkannt
werden. Ohne diese Trenner würden sie als eine einzige Stimme notiert
werden. Diese Technik ist besonders dann angebracht, wenn es sich bei
den Noten um hauptsächlich homophone Musik handelt, in der hier und da
polyphone Stellen vorkommen.
So sieht es aus, wenn die Akkorde in zwei Stimmen aufgeteilt werden und zur Durchgangsnote noch ein Bogen hinzugefügt wird:
\relative { \key g \major % Voice = "1" Voice = "2" << { g'4 fis8( g) a4 g } \\ { d4 d d d } >> }
Beachten Sie, dass die Hälse der zweiten Stimme nun nach unten zeigen.
Hier ein anderes Beispiel:
\relative { \key d \minor % Voice = "1" Voice = "2" << { r4 g' g4. a8 } \\ { d,2 d4 g } >> | << { bes4 bes c bes } \\ { g4 g g8( a) g4 } >> | << { a2. r4 } \\ { fis2. s4 } >> | }
Es ist nicht notwendig, für jeden Takt eine eigene
<< \\ >>
-Konstruktion zu benutzen. Bei Musik mit nur wenigen
Noten pro Takt kann es die Quelldatei besser lesbar machen, aber
wenn in einem Takt viele Noten vorkommen, kann man die gesamten Stimmen
separat schreiben, wie hier:
<< \key d \minor \relative { % Voice = "1" r4 g' g4. a8 | bes4 bes c bes | a2. r4 | } \\ \relative { % Voice = "2" d'2 d4 g | g4 g g8( a) g4 | fis2. s4 | } >>
Dieses Beispiel hat nur zwei Stimmen, aber die gleiche Konstruktion kann angewendet werden, wenn man drei oder mehr Stimmen hat, indem man weitere Backslash-Trenner hinzufügt.
Die Stimmenkontexte tragen die Namen "1"
, "2"
usw. Der erste
Kontext stellt die „äußeren“ Stimmen ein, die höchste Stimme im
Kontext "1"
und die tiefste Stimme im Kontext "2"
. Die
inneren Stimmen kommen in die Kontexte "3"
und "4"
. In
jedem dieser Kontexte wird die vertikale Ausrichtung von Bögen, Hälsen,
Dynamik usw. entsprechend eingestellt.
\new Staff \relative { % Main voice c'16 d e f % Voice = "1" Voice = "2" Voice = "3" << { g4 f e } \\ { r8 e4 d c8~ } >> | << { d2 e } \\ { c8 b16 a b8 g~ 2 } \\ { s4 b c2 } >> | }
Diese Stimmen sind alle getrennt von der Hauptstimme, die die Noten
außerhalb der << .. >>
-Konstruktion beinhaltet. Lassen wir es
uns die simultane Konstruktion nennen. Bindebögen und Legatobögen
können nur Noten in der selben Stimmen miteinander verbinden und können
also somit nicht aus der simultanen Konstruktion hinausreichen. Umgekehrt
gilt, dass parallele Stimmen aus eigenen simultanen Konstruktionen auf
dem gleichen Notensystem die gleiche Stimme sind. Auch andere, mit dem
Stimmenkontext verknüpfte Eigenschaften erstrecken sich auf alle
simultanen Konstrukte. Hier das gleiche Beispiel, aber mit unterschiedlichen Farben für die Notenköpfe der unterschiedlichen Stimmen.
Beachten Sie, dass Änderungen in einer Stimme sich nicht auf die anderen
Stimmen erstrecken, aber sie sind weiterhin in der selben Stimme vorhanden,
auch noch später im Stück. Beachten Sie auch, dass übergebundene Noten
über die gleiche Stimme in zwei Konstrukten verteilt werden können, wie
hier an der blauen Dreieckstimme gezeigt.
\new Staff \relative { % Hauptstimme c'16 d e f << % Takt 1 { \voiceOneStyle g4 f e } \\ { \voiceTwoStyle r8 e4 d c8~ } >> | << % Takt 2 % Voice 1 wird fortgesetzt { d2 e } \\ % Voice 2 wird fortgesetzt { c8 b16 a b8 g~ 2 } \\ { \voiceThreeStyle s4 b c2 } >> | }
Die Befehle \voiceXXXStyle
sind vor allem dazu da, um in
pädagogischen Dokumenten wie diesem hier angewandt zu werden.
Sie verändern die Farbe des Notenkopfes, des Halses und des Balkens, und
zusätzlich die Form des Notenkopfes, damit die einzelnen Stimmen
einfach auseinander gehalten werden können. Die erste Stimme ist als
rote Raute definiert, die zweite Stimme als blaue Dreiecke, die dritte
Stimme als grüne Kreise mit Kreuz und die vierte Stimme (die hier nicht
benutzt wird) hat dunkelrote Kreuze. \voiceNeutralStyle
(hier auch
nicht benutzt) macht diese Änderungen rückgängig. Später soll gezeigt
werden, wie Befehle wie diese vom Benutzer selber erstellt werden
können. Siehe auch Sichtbarkeit und Farbe von Objekten und
Variablen für Layout Anpassungen einsetzen.
Polyphonie ändert nicht die Verhältnisse der Noten innerhalb eines
\relative
-Blocks. Jede Note wird weiterhin relativ zu
der vorherigen Note errechnet, oder relativ zur ersten Note des vorigen
Akkords. So ist etwa hier
\relative { noteA << < noteB noteC > \\ noteD >> noteE }
NoteB
bezüglich NoteA
NoteC
bezüglich NoteB
, nicht noteA
;
NoteD
bezüglich NoteB
, nicht NoteA
oder
NoteC
;
NoteE
bezüglich NoteD
, nicht NoteA
errechnet.
Eine andere Möglichkeit ist, den \relative
-Befehl vor jede
Stimme zu stellen. Das bietet sich an, wenn die Stimmen weit voneinander
entfernt sind.
\relative { NoteA … } << \relative { < NoteB NoteC > … } \\ \relative { NoteD … } >> \relative { NoteE … }
Zum Schluss wollen wir die Stimmen in einem etwas komplizierteren Stück analysieren. Hier die Noten der ersten zwei Takte von Chopins Deux Nocturnes, Op. 32. Dieses Beispiel soll später in diesem und dem nächsten Kapitel benutzt werden, um verschiedene Techniken, Notation zu erstellen, zu demonstrieren. Ignorieren Sie deshalb an diesem Punkt alles in folgendem Code, das Ihnen seltsam vorkommt, und konzentrieren Sie sich auf die Noten und die Stimmen. Die komplizierten Dinge werden in späteren Abschnitten erklärt werden.
Die Richtung der Hälse wird oft benutzt, um anzuzeigen, dass zwei gleichzeitige Melodien sich fortsetzen. Hier zeigen die Hälse aller oberen Noten nach oben und die Hälse aller unteren Noten nach unten. Das ist der erste Anhaltspunkt, dass mehr als eine Stimme benötigt wird.
Aber die wirkliche Notwendigkeit für mehrere Stimmen tritt erst dann auf, wenn unterschiedliche Noten gleichzeitig erklingen, aber unterschiedliche Dauern besitzen. Schauen Sie sich die Noten auf dem dritten Schlag im ersten Takt an. Das As ist eine punktierte Viertel, das F ist eine Viertel und das Des eine Halbe. Sie können nicht als Akkord geschrieben werden, denn alle Noten in einem Akkord besitzen die gleiche Dauer. Sie können aber auch nicht nacheinander geschrieben werden, denn sie beginnen auf der gleichen Taktzeit. Dieser Taktabschnitt benötigt drei Stimmen, und normalerweise schreibt man drei Stimmen für den ganzen Takt, wie im Beispiel unten zu sehen ist; hier sind unterschiedliche Köpfe und Farben für die verschiedenen Stimmen eingesetzt. Noch einmal: der Quellcode für dieses Beispiel wird später erklärt werden, deshalb ignorieren Sie alles, was Sie hier nicht verstehen können.
Versuchen wir also, diese Musik selber zu notieren. Wie wir sehen
werden, beinhaltet das einige Schwierigkeiten. Fangen wir an, wie
wir es gelernt haben, indem wir mit der << \\ >>
-Konstruktion
die drei Stimmen des ersten Taktes notieren:
\new Staff \relative { \key aes \major << { c''2 aes4. bes8 } \\ { <ees, c>2 des } \\ { aes'2 f4 fes } >> | <c ees aes c>1 | }
Die Richtung des Notenhalses wird automatisch zugewiesen; die ungeraden
Stimmen tragen Hälse nach oben, die gerade Hälse nach unten. Die Hälse
für die Stimmen 1 und 2 stimmen, aber die Hälse in der dritten Stimme
sollen in diesem Beispiel eigentlich nach unten zeigen. Wir können das
korrigieren, indem wir die dritte Stimme einfach auslassen und die
Noten in die vierte Stimme verschieben. Das wird einfach vorgenommen,
indem noch ein Paar \\
-Stimmen hinzugefügt wird.
\new Staff \relative { \key aes \major << % Voice 1 { c''2 aes4. bes8 } \\ % Voice 2 { <ees, c>2 des } \\ % Auslassen von Voice 3 \\ % Voice 4 { aes'2 f4 fes } >> | <c ees aes c>1 | }
Wie zu sehen ist, ändert das die Richtung der Hälse, aber die horizontale
Ausrichtung der Noten ist nicht so, wie wir sie wollen. LilyPond
verschiebt die inneren Noten wenn sie oder ihre Hälse mit den äußeren
Stimmen zusammenstoßen würden, aber das ist nicht richtig für Klaviermusik.
In anderen Situationen können die Verschiebungen von LilyPond nicht
ausreichend sein, um Überlappungen aufzulösen. LilyPond stellt verschiedene
Möglichkeiten zur Verfügung, um die horizontale Ausrichtung von Noten
zu beeinflussen. Wir sind aber noch nicht so weit, dass wir diese Funktionen
anwenden könnten. Darum heben wir uns das Problem für einen späteren Abschnitt
auf; siehe force-hshift
-Eigenschaft in
Überlappende Notation in Ordnung bringen.
Achtung: Gesangstext und Strecker (wie etwa Bögen, Crescendo-Klammern usw.) können nicht von einer Stimme zur anderen erstellt werden.
Siehe auch
Notationsreferenz: Mehrere Stimmen.
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